Manchmal kann eine Geschichte für sich allein stehen. Manchmal ergibt sich durch ihre Einordnung in einen bestimmten Kontext  ein größeres Bild. Im Buch Stambul – Geschichten zwischen Sultanat und Republik  ist genau solch ein historischer Hintergrund vorhanden. Die Geschichten spiegeln die Entwicklungen der heutigen Stadt Istanbul zur Zeit des 1. Weltkriegs wider. Zeitungsartikel, welche im Buch gelesen werden, erzählen vom Verlauf des Kriegs und seinen Auswirkungen auf das Osmanische Reich. Welche Auswirkungen diese weltpolitische Entwicklung wiederum auf die Bewohner der Stadt hat, erzählen die Geschichten. Somit ähnelt  Stambul einem historischen Roman – nur eben in kurzen Episoden.

Das Osmanische Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts

Das Osmanische Reich befand sich um die Jahrhundertwende im Niedergang: Wirtschaftliche Fehlentwicklungen, Missernten, separatistische Bestrebungen nicht-türkischer Volksgruppen und koloniale Bestrebungen der anderen europäischen Mächte setzten dem Reich zu. Dazu kamen Umbrüche im Inneren. Im Zuge der  Jungtürkischen Revolution ab 1908 setzten westlich und nationalistisch geprägte Offiziere den bisherigen Sultan Abdülhamid II. ab und ersetzen ihn durch seinen fügsamen Bruder Mehmed V..

Nun regierte das Militär im Osmanischen Reich und zu den besonders  einflussreichen Personen gehörten Talât Pascha, Cemal Pascha und Enver Pascha. Besonders Kriegsminister Enver Pascha setzte viel anvertiefte Beziehungen zum Deutschen Reich. Er war es auch, der für den Eintritt in den Ersten Weltkrieg sorgte, indem er mit seinem Kabinett einen Tag nach Kriegsausbruch einen Bündnisvertrag mit Deutschland schloss – zunächst noch im Geheimen. Das Osmanische Reich befand sich in einer misslichen Lage, denn als neutraler Staat hätte es keine Überlebenschance gehabt. Russische Interessen drohten in Anatolien und mit den Dardanellen und dem Bosporus in Istanbul war das Land strategisch zu wichtig – sowohl für die  Entente als auch für die  Mittelmächte

Das Osmanische Reich im Ersten Weltkrieg

Ausschlaggebend für den Kriegseintritt des Osmanischen Reiches 1914 waren vier Schiffe. Zum einen zwei von den Osmanen in England bestellte und bezahlte Kriegsschiffe, welche die Britten am 1. August 1914 beschlagnahmten und zum anderen die beiden deutschen Kriegsschiffe SMS Goeben und SMS Breslau, welche sich am 10. August 1914 (von britischen Kriegsschiffen verfolgt) in die Dardanellen retten konnten und zwei Tage später inklusive der deutschen Besatzung an die osmanische Marine übergeben wurden.

Ein wichtiger Schauplatz während des Ersten Weltkriegs war die  Schlacht von Gallipoli, in der die osmanische Armee eine Invasion der Entente (hauptsächlich Neuseeländer und Australier) verhindern konnte. Zu Berühmtheit gelangte hier der Offizier Mustafa Kemal Pascha, welcher fortan als Kriegsheld gefeiert wurde und auch erstmalig in der internationalen Presse Beachtung fand.


Der Türkische Befreiungskrieg 1919 – 1923

Dieser Mustafa Kemal Pascha war es, der nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg den nun folgenden  Unabhängigkeitskrieg anführte. Denn das Osmanische Reich wurde mit dem Vertrag von Sèvres auf ein vergleichsweise kleines Stück Kleinasiens zusammengestutzt. Konstantinopel wurde – genau wie Teile des heutigen Syriens und Iraks – von Briten und Franzosen besetzt. Küstenabschnitte am Mittelmeer kontrollierte Italien, weite Teile im Osten fielen Armenien zu. Die Griechen erhielten Thrakien (europäischer Teil der heutigen Türkei) und die Stadt Smyrna (heute Izmir). Während die Hohe Pforte in Konstantinopel dies hinnahm, erstarkte der Widerstand bei den Türken. Mustafa Kemal Pascha und andere Offiziere sammelten die Überreste der osmanischen Armee. Sie verdrängten nach und nach die Besetzungsmächte aus Anatolien. Auch die Griechen, die mit ihrer Landung bei Izmir eine Chance zur Vergrößerung ihres Gebiets witterten und weiter ins anatolische Kernland eindrangen, wurden bis 1922 wieder vom Festland vertrieben.  

Fotografie von Mustafa Kemal Atatürk in militärischer Uniform, sitzend mit Gehstock und Kalpak.

Republikgründung der Türkei

Zeitgleich mit dem Befreiungskrieg traf man in Ankara ab 1919 Vorbereitungen für einen neuen Staat. Eine Nationalversammlung gründete sich 1920 und man verabschiedete im darauffolgenden Jahr eine provisorische Verfassung. Sowohl die staatlichen Strukturen, welche maßgeblich von Mustafa Kemal bestimmt wurden als auch die militärischen Erfolge stärkten die (internationale) Position der nationalen Bewegung gegenüber den Monarchen in Konstantinopel. Dies führte schließlich dazu, dass die Nationalisten 1923 in Ankara kurzerhand das Sultanat abschafften und es ihnen im selben Jahr gelang, mit dem  Vertrag von Lausanne einen neuen Friedensvertrag auszuhandeln. 

Am 29. Oktober desselben Jahres wurde in der neuen Hauptstadt Ankara die Republik ausgerufen. Mustafa Kemal Pascha – der Jahre später den Ehrennamen Atatürk erhalten sollte – wurde ihr erster Staatspräsident. Das Sultanat der Osmanen war damit endgültig beendet. Das Osmanische Reich  tauchte nicht mehr auf der Karte auf und auch das Kalifat wurde ein Jahr später aufgelöst.

Diese Entwicklungen werden jedoch in einem zweiten Buch näher beleuchtet.

Die Geschichte Istanbuls im Buch Stambul

Auch wenn sowohl der Erste Weltkrieg als auch der sich anschließende Befreiungskrieg immer im Hintergrund durchscheinen, so ist das Buch  Stambul eben keine Kriegsgeschichte mit historischem Hintergrund. Zu Kriegshandlungen kommt es nicht.

Doch welche Auswirkungen ein entfernt ausgefochtener Weltkrieg auf den Einzelnen haben kann, erfährt beispielsweise die Figur Valentino, dessen geplante Reise nach Jerusalem gefährdet ist. Und obwohl in Istanbul selbst keinerlei Gefechte stattfinden, hat das Geschehen dort einen großen Einfluss auf den Befreiungskrieg in Anatolien. Was der Leser anhand der wahren Geschichte von Berber Ömer eindrücklich erfahren kann.